Das Volk
DAS VOLK

Die organisierte Masse, eingezwängt in streng hierarchisch funktionierende Systeme und vor allem der
Begriff „Volk“ als demografisches wie kulturelles Phänomen fasziniert den Künstler Leo Stern seit 2007.
Wie kann der Volksbegriff grenzüberschreitend und trotzdem identitätsstiftend sein? Wer entscheidet
über Zugehörigkeit und Ausschluss? Und wie wird Masse zur Bedrohung? Gibt es eine Chance zur
Individualität oder ist jeder gleich unter Gleichen?

Statt nach konkreten Staatenmodellen sucht Leo Stern Symbole, baut mit seinen Skulpturen ausdrucksstarke
Bilder die in ihrer technischen und künstlerischen Perfektion bestechen. Seine seriell aus über 1.450 Einzel-
teilen hergestellte Werkgruppe besteht aus 30 riesenhaften Ameisen: Synonym für eine Masse als
beängstigende Ansammlung tentakelartiger Körper. In diesem Sinne ist er kein traditioneller Bildhauer,
sondern „Bilderbauer“.

Die Semi-Transparenz des verchromten Kunststoffmaterials provoziert den Kontrast von diffus durch-
scheinender Hülle und Körperhaftigkeit. Die zerlaufende dunkle Farbschicht gibt den wie geklont wirkenden
Ameisen einen Rest Individualität zurück, doch in der konformen Masse gibt es auch „Störfaktoren“: sich
rückwärts gegen den Strom wendende Protagonisten.

Leo Sterns „Volk“ ist als überdimensionierte Gruppe eines fiktiven Ameisenstaates nicht unbedingt
„Sympathieträger“, Bienen wären sicher attraktiver und sind besonders in der Gattung Literatur positiv
besetzt. Doch vor allem die modernen Industriegesellschaften tun sich schwer mit dem Begriff des Volkes,
der allgemein als antiquiert gilt und mit Adjektiven wie „volkstümlich“ und „volksnah“ nostalgisch bewertet
wird.

Gerade „das Volk der Deutschen“ hat in seinem separierten Sprachgebrauch der ehemals verschieden
Staatssysteme einseitig verwendete Begriffe damit verbunden: Volksarmee/Volksarmist (der DDR) oder
Volksbegehren (BRD). Doch die „Masse Mensch“ , wie der revolutionäre Schriftsteller Ernst Toller sein
expressionistisches Drama nennt, in denen er seine pazifistische Haltung nach grausamen Kriegs-
erlebnissen formuliert, ist heute vor allem in ihren ethnischen Minderheiten besonders in „Vielvölker-
staaten“ bedroht.

Leo Stern schafft in seinem Werk mit fabulierender Ausdruckskraft assoziative Brücken zu schlagen:
zwischen starrer Definition und künstlerischer Freiheit, zwischen Mikro- und Makrokosmos, Psychologie
der Masse und Biologie. Seine sinnbildhaften Skulpturen sind ein „Corpus delicti“ seines Philosophierens
und seiner Erkenntnis über diese Welt.

Christina Wendenburg
DAS VOLK, Leo Stern, Basel 2008, Foto: Tom Fecht      Impressum